Evidenz der Malerei

1. These: Alle glaubwürdige bildnerische Kunst ist evident (klar bzw. luzide/einleuchtend). Daraus leitet sich in der Folge der Anspruch auf einen Erkenntniswillen in der Rezeption ab.

These1-1 Rembrandt - Stilleben 1627 These1-2 Hofer  Die Versehrten 1952 These1-3 Gustav Klimt - Danae 1907-1908 These1-4 Frida Kahlo - le due frida 1953 These1-5 Eva Aeppli - ohne Titel - 1967

Kein Bildwerk sagt etwas, sondern macht etwas sichtbar: Auf Evidenz konzentriert sich folglich die Arbeit des Künstlers.
Das Wort Evidenz bedeutet (lt. Wahrigs Deutsches Wörterbuch) Augenschein, Offenkundigkeit, völlige Klarheit. Erkenntniswille ist das Gegenüber dazu. Auch wenn Erkennen oberflächlich mit rationaler Aktivität verbunden wird, ist das passende Element die sinnliche Erkenntnis. Als analogon rationis (A.G. Baumgarten) überbietet sie die rationale Erkenntnis in Prägnanz und Tempo.



2. These: Evidenz bezieht sich auf die dialektische Einheit von Form und Inhalt. Falsches wird als Unstimmiges offensichtlich. Wenn aber Unstimmiges in der Wirklichkeit zum Thema des Bildwerkes gewählt ist, gilt dennoch der Evidenzanspruch an die Darstellung des Unstimmigen.

These2-1 Johannes Gruetzke - Heckerdenkmal These2-2 Joerg Immendorf-Cafe Deutschland 1978 These2-3 Hundertwasser - Seelenbaeume 1998 These2-4 Joan Miro - soleil rouge 1972

Unstimmigkeiten im Werk degradieren es. Sein Inhalt wird zur Vorspiegelung falscher Tatsachen. Selbst handwerkliche Akkuratesse übertüncht nicht das Unwahre in der Aussage. Kulturindustrielle Produkt, wenn man sie kritisch betrachtet, sind die deutlichsten Belege dafür. In der Theorie wird das "Falsche" als das "Hässliche" bezeichnet. Soll also das "Hässliche" zur kritischen Betrachtung dargestellt werden, so gilt auch hier, dass das "Falsche" unmissverständlich als Bildgegenstand erscheint. Nicht das Bild ist falsch, hässlich bzw. unstimmig, sondern sein Gegenstand. Der soll zur Anschauung gebracht werden.



3. These: Basis der Evidenz der Bildwerke ist die Klarheit der inhaltlichen Elemente, die Eindeutigkeit der eingesetzten Bildmittel und die Logik der Formierung. Das gilt über den gesamten kunstgeschichtlichen Zeitraum hinweg bis in die neueste Moderne.

These3-1 Camille Graeser - Gelb-Blau-Volumen 1974 These3-2 Horst Antes - rotbekleidete Figurigur 1966 These3-3 Lambert Maria Wintersberger - Verletzung 1968 1970 These3-4 Daniel Richter - Flash 2002

Kannte die vormoderne Malerei weitgehend literarische Inhalte (religiöse, ideologische oder poetische) so erweitert sich das in der Moderne. Das Sujet ist die Transformation des Faktischen in die Bildform, die Interpretation und die Stellungnahme zur Wirklichkeit. Das steigert sich schließlich bis zur Erfindung einer ausschließlichen Bildwirklichkeit. Entsprechend wandeln sich die Bildmittel vom „trompe loeille“ zum radikalen Einsatz von Farbe und Form. Zwar gibt es weiterhin narrative Bildgestaltung. Dominant ist in der Moderne jedoch die Ordnung und das Arrangement der Farb- und Formelemente.



4. These: Wenn die Kunst jeweils die Stilisation ihrer Zeit ist, lässt sich das Prinzip der Evidenz auch in den Bildwerken aller Epochen und Kulturkreise nachweisen. In allen Werken der Vergangenheit und der Gegenwart kommt das jeweils historisch Wesentliche zur Anschauung.

These4-1 Rosso Fiorentino - Kreuzabnahme 1523 These4-2 Guttuso - Kreuzigung 1941 These4-3 Otto Dix Grosse Kreuzaufrichtung 1962 These4-4 Wolf Vostell - Miss Amerika 1968

Sind zum genauen Erkennen der Merkmale zwar kulturgeschichtliche Kenntnisse notwendig, so ist dennoch auch ohne genaues Wissen in den Bildern die Eigenart der Zeit im Bild evident. Damit ist zum Beispiel nicht gemeint, dass ein religiöser Inhalt als Bild eindeutig sichtbar gemacht wurde, sondern dass die Bedeutung aufscheint, die den Glaubensinhalten zu ihrer Zeit beigemessen wurde.